STRATEGISCHE ZIELDEFINTION: DIE VISION EINES NEUEN FAHRZEUGS VERSTEHEN UND ÜBERSETZEN
Am Beginn eines jeden Projekts steht die gemeinsame Erarbeitung der Produktvision mit dem Kunden. Diese Vision ist nicht nur ein abstraktes Marketingziel, sondern ein konkreter Ausgangspunkt, der die gesamte UI/UX-Strategie prägt.
In sogenannten Pre-Feasibility-Phasen wird dabei zunächst geklärt:
- Welche Fahrzeugklasse ist vorgesehen (SUV, Limousine, Offroader etc.)?
- Welche Zielgruppe soll angesprochen werden?
- Welche emotionale Markenwelt (Marken-UX) und welche funktionalen Erwartungen sollen erfüllt werden?
- Sollen bestehende Plattformen (Carry-Over) genutzt oder völlig neue Bedienkonzepte entwickelt werden?
An diesem Punkt wird die Gesamtvision heruntergebrochen auf zentrale Fragen wie:
- Soll das neue Fahrzeug stärker auf ein intuitives, reduziertes Bedienkonzept setzen oder bewährte, analoge Lösungen weiterführen?
- Wie wichtig sind Technologien wie Sprachsteuerung, Gestensteuerung oder KI-unterstützte Personalisierung?
- Welche Rolle spielt ein innovatives Infotainment gegenüber klassischen Instrumenten?
Die Antworten darauf beeinflussen die spätere UI/UX-Architektur maßgeblich. Aus dieser strategischen Grundlage werden anschließend Kern-USPs entwickelt. Ein Projektteam – bestehend aus UI/UX-Spezialisten, Integrationsverantwortlichen und Styling-Experten – erarbeitet dann erste User-Stories und skizziert ein grundlegendes Interaktionskonzept.
BENCHMARKING: WETTBEWERBSANALYSE ALS LEITPLANKE UND INSPIRATION
Parallel zur strategischen Zielklärung wird im Regelfall ein strukturiertes Benchmarking durchgeführt. Dieser Prozess ist weit mehr als eine oberflächliche Marktbeobachtung. Vielmehr wird eine tiefe Analyse durchgeführt, die systematisch aufzeigt, wie Konkurrenzprodukte wesentliche UI/UX-Aufgaben lösen.
Beispiel: Die Mercedes-Benz G-Klasse als Benchmark für Offroad-UI
Steht etwa die Entwicklung eines neuen Hard-Offroaders im Fokus, wird die Mercedes-Benz G-Klasse häufig als Benchmark herangezogen – sowohl in technischer als auch in UI/UX-Hinsicht.
Ein Benchmarking-Team untersucht dann beispielsweise:
- Welche Anzeige- und Bedienelemente werden für Offroad-Modi genutzt?
- Werden Differentialsperren über Kippschalter, Drehregler oder Touch-Lösungen aktiviert?
- Wie wird der Fahrer optisch und akustisch über den Status von Sperren oder Steigungen informiert?
- Gibt es kombinierte physische und digitale Anzeigen, um Redundanz und maximale Klarheit im Gelände zu gewährleisten?
In Workshops mit dem Kunden wird dabei gemeinsam festgelegt, bei welchen Funktionen der Benchmark relevant ist. Geht es nur um die mechanische Offroad-Performance oder auch explizit um die Benutzerführung? Diese Unterscheidung ist wichtig, weil ein Fahrzeug zwar fahrdynamisch mit einem Benchmark konkurrieren kann, im UI/UX aber ganz andere Prioritäten haben darf – etwa stärker digitalisiert und minimalistisch.
Bewertungs-Index und Zieldefinition
Um Benchmark-Ergebnisse greifbar zu machen, werden bei Magna auch sogenannte Bewertungs-Indizes eingesetzt. Ein bestimmtes Bedienkonzept, etwa für die Aktivierung von Achssperren, kann so auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet werden: Ein Wert von 8 etwa signalisiert eine sehr durchdachte Lösung, die sowohl haptisch als auch visuell optimal umgesetzt ist. In Abstimmungen mit dem Kunden wird dann konkret definiert, ob das neue Konzept auf diesem Niveau liegen, oder ob dieses bewusst unter- oder übertreffen soll.
So entsteht ein präzises Zielbild, das lauten kann „Wir wollen im Bereich Offroad-Bedienung mindestens auf dem Niveau der Mercedes-Benz G-Klasse liegen, im Bereich Infotainment jedoch eine modernere, stärker digitalisierte Lösung umsetzen.“
Dieser Ansatz stellt sicher, dass strategische Ambitionen wie das Ziel, besser als der Benchmark zu sein, messbar und umsetzbar gemacht werden. Gleichzeitig werden dadurch alle Projektbeteiligten dazu gezwungen, sich frühzeitig mit den technischen und ergonomischen Konsequenzen auseinanderzusetzen.
FEATURE-DEFINITION UND USER-STORIES: VOM BENCHMARK ZUR KONKRETEN FUNKTION
Aus den strategischen Zielvorgaben und den Benchmarks werden anschließend User-Stories und Feature-Listen abgeleitet. Diese bilden die Grundlage dafür, welche konkreten Bedien- und Anzeigeelemente im Fahrzeug benötigt werden.
So kann die Entscheidung entstehen, dass ein Hard-Offroader zwingend robuste Hard-Buttons für zentrale Offroad-Funktionen benötigt. Hintergrund ist die folgende Überlegung
- Fahrer, die echtes Gelände befahren, haben häufig schmutzige oder nasse Hände.
- Touch-Oberflächen sind hier weniger geeignet, weil sie verschmieren oder unpräzise bedienbar werden.
- Mechanische Schalter geben einen direkten Respons.
- Auf unebenen Untergrund schaukelnde Fahrzeuge erschweren das Ansteuern digitaler Bedienelemente auf dem Bildschirm.
Soll hingegen ein SUV entwickelt werden, der nur für „leichtes Offroad“ gedacht ist (z. B. Forstwege, Feldwege), können Offroad-Funktionen stärker ins Display integriert und über Drive-Modi gesteuert werden. Dadurch können UI/UX-Konzepte cleaner und minimalistischer gehalten werden, ohne die Zielgruppe zu überfordern.
Switch-Map als zentrales Planungstool
Ein wichtiger Baustein dieser Konzeptphase ist die Switch-Map: eine schematische Draufsicht auf das Fahrzeug, in der alle geplanten Bedienelemente (Soft- und Hard-Buttons, Displays, Controller) verortet sind.
Dabei wird nicht jedes Detailmenü beschrieben. Vielmehr geht es darum, Fragen zu beantworten wie:
- Wo befinden sich Displays?
- Wo sind zentrale Hard-Buttons platziert?
- Welche Aufgaben übernimmt Sprachsteuerung?
- Welche Bereiche sind durch Gesten bedienbar?
Diese Switch-Map dient als kommunikative Basis, um Feature-Entscheidungen mit dem Kunden, den Stylisten, der Architektur und dem Elektrik/Elektronik-Team zu synchronisieren.
TOOLS, DEMONSTRATOREN UND PROTOTYPING: KONZEPTE FRÜH ERLEBBAR MACHEN
Ein Schlüsselelement moderner UI/UX-Entwicklung ist die Fähigkeit, Bedienkonzepte frühzeitig erlebbar zu machen. Dies dient nicht nur der Kundenzufriedenheit, sondern reduziert auch Entwicklungsrisiken massiv. Bei Magna ist dieser Ansatz eng mit standardisierten Prozessvorgaben und einem durchdachten System von Demonstratoren verknüpft.
Die vier zentralen Demonstratoren
- Online-Click-Dummy (Cloud-basiert)
Dieses Tool erlaubt es, komplette UI-Flows grafisch zu modellieren. Es werden keine realen Steuergeräte benötigt; stattdessen werden Menüs, Untermenüs und Anzeigen als interaktive Click-Flows simuliert. Der Kunde oder Projektbeteiligte kann sich so bereits durch Bedienelemente seines zukünftigen Fahrzeugs klicken, ohne dass eine Zeile Softwarecode im Steuergerät existiert. Besonders in frühen Designphasen ist dieses Tool wertvoll, um Varianten rasch zu erstellen und weltweit remote Feedback einzuholen. - UI-Demonstrator (physischer Aufbau)
Hier werden Displays, Lenkrad, Sprachmikrofone und erste Hard-Buttons in einem realitätsnahen Cockpit-Setup installiert. Über diesen Aufbau können grundlegende Funktionen wie Musiksteuerung, Klimasteuerung oder Offroad-Modi physisch bedient werden. Erstmals wird dabei die Verzahnung von Hard-Buttons, Touch-Displays, Sprach- und Gesteneingabespürbar. - ParaSiki (inkl. Virtual Reality)
Eine immersive VR-Umgebung erlaubt es, das geplante Interieur samt Bedienlogik aus der Ich-Perspektive zu erleben. So lassen sich z. B. Blickführungen, Displayplatzierungen oder das Erreichen von Bedienelementen simulieren. Auch Szenarien mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen oder Fahrsituationen können hier berücksichtigt werden. - VR-Simulator
Ein weiterer Schritt erlaubt es, dass die UI/UX im dynamischen Fahrkontext getestet werden kann. Fahrer- und Fahrzeugsimulationen zeigen, wie ablenkend bestimmte Bedienaufgaben sind oder wie Displays und Bedienelemente während der Fahrt funktionieren.
Beispiele für den Mehrwert dieser Tools
In einem Projekt sollte beispielsweise ein bestehendes Lenkrad übernommen werden, das ursprünglich keine Adaptive Cruise Control (ACC) unterstützt hatte. Das Team entwickelte verschiedene Vorschläge, wie ACC logisch und ergonomisch auf den vorhandenen Knöpfen abgebildet werden könnte.
In Online-Meeting herrschte vor allem Skepsis seitens Kunde. Doch entgegen der Erwartung erwies sich dann in einem Workshop die vorgeschlagene Anordnung der Bedienelemente am Lenkrad für den Nutzer als intuitiv und sinnvoll. Der Kunde konnte direkt ausprobieren, Knöpfe drücken, Reaktionen am Screen erleben und so eine fundierte Entscheidung treffen.
ABSTIMMUNGEN, VARIANTEN UND ITERATIVE ENTWICKLUNG
UI/UX-Entwicklung ist ein hoch iterativer Prozess. In regelmäßigen wöchentlichen Meetings werden mit dem Kunden nicht nur Statusberichte ausgetauscht, sondern aktiv Konzepte bewertet und Varianten entschieden. Oft stehen dabei verschiedene Lösungswege nebeneinander:
- Variante A: maximal wirtschaftlich, nutzt viele Carry-Over-Teile, führt aber zu sub-optimalen UX-Ergebnissen.
- Variante B: perfektes UX-Konzept, jedoch meist technisch anspruchsvoller und damit teurer.
Solche Entscheidungen werden immer entlang der ursprünglich gemeinsam definierten Zielhierarchie getroffen. Wirtschaftliche Vorgaben, Packaging-Fragen und auch Stylingwünsche (z. B. möglichst wenig sichtbare Buttons) führen regelmäßig zu Kompromissen, die sorgfältig abgewogen werden müssen.
Ziel ist es, möglichst viele dieser Konflikte in einer Phase zu lösen, in der Änderungen noch ohne größeren Aufwand und damit kostengünstiger sind – und das ist typischerweise der Fall, bevor Hardware-Werkzeuge für die Produktion beauftragt werden.
CONCEPT BOOK UND SPEZIFIKATIONEN ALS ENDPRODUKT
Das Concept Book – auch Human-Machine Interface (HMI) Book oder UI/UX-Book genannt – ist das abschließende Ergebnis des gesamten Entwicklungsprozesses. Es enthält:
- alle Features, deren Bedienarten (Touch, Button, Geste, Sprache) und Rückmeldungen,
- detaillierte Grafiken und Layoutbeschreibungen,
- präzise Beschreibungen, welche Reaktion z. B. beim Drücken eines „Play“-Knopfs innerhalb welcher Zeit erfolgen muss,
- und die Verlinkung zu funktionalen Entwicklungs-IDs, die sicherstellen, dass kein Feature ohne UI/UX bleibt.
Das Concept Book ist Grundlage für Zulieferer und interne Entwickler. Es wird zudem in die funktionalen Produktionsprozesse eingebunden: Eine Funktion gilt erst dann als „fertig“, wenn ihr Anzeige- und Bedienkonzept final definiert und im Entwicklungsprozess sozusagen „auf grün“ gesetzt ist. Als Anhang zum Concept Book wird auch der online Clickdummy zur Verfügung gestellt, dass sich alle Stakeholder ein besseres Bild von der Beschreibung im Concept Book machen können.
FAZIT UND AUSBLICK
Die Entwicklung eines UI/UX-Bedienkonzepts von Magna im Fahrzeugbau ist ein Paradebeispiel für die Verbindung aus strategischem Denken, methodischem Vorgehen und kreativ-technischer Lösungsfindung. Vom ersten Benchmark über Switch-Maps und User-Stories bis hin zu Click-Dummys, Demonstratoren und VR-Simulationen spannt sich ein Prozess, der sicherstellt, dass ein neues Fahrzeug-Bedienkonzept die Marktvision des Kunden erfüllt, technisch realisierbar ist und den Endkunden begeistert.
Mit dem Vorgehen von Magna lassen sich innovative Lösungen entwickeln, die im Wettbewerb bestehen – sei es durch robuste mechanische Schalter für den harten Offroad-Einsatz oder durch minimalistische, KI-gestützte Touch-Interfaces für urbane Premiumfahrzeuge. Der strukturierte Einsatz von Benchmarks und Demonstratoren reduziert dabei Entwicklungsrisiken und -kosten und sichert so ein Ergebnis, das am Ende in allen Aspekten „ready for series“ ist.
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