Viele Wege führen zur Reichweite – Energiemanagement im E-Auto
- Michael Martin
- August 09, 2023
- 6-min Lesezeit
Die Maximierung der Reichweite ist eines der vorrangigen Ziele bei der BEV-Entwicklung. Diese ergibt sich aus der Kombination von Effizienz und Batteriegröße. Der Einbau einer größeren Fahrbatterie mit größerem Energievorrat erhöht zwar die Reichweite, führt aber zwangsweise zu einem höheren Gewicht und somit zur Verschlechterung der Effizienz. Für den Kunden ist letztendlich aber auch die Effizienz ein wichtiges Kriterium, denn diese beschreibt wieviel die gefahrenen Kilometer den Kunden im Fahrbetrieb kosten.
Das Entwicklungsziel ist daher also nicht nur die Maximierung der Nenn-Reichweite unter den normierten und günstigen Bedingungen des WLTP-Testverfahrens, sondern auch die für die Kundschaft relevante Real-Reichweite und die Fahrtkosten. Denn nur, wenn auch hier gute Ergebnisse erzielt werden, die nicht zu weit von den WLTP-Normwerten abweichen, wird eine langfristig hohe Zufriedenheit der Endkundschaft gewährleistet. Dies ist natürlich ein zentrales Interesse des Fahrzeugherstellers.
> Ganzheitliche Betrachtung des Gesamtfahrzeugs
> Zielgerechte Antriebsformel – Allradantrieb kann effizienter sein
> Normreichweite und Realreichweite annähern
> Reifen als Teil des Energiemanagements?
> Thermomanagement als wichtiges Element der Energiestrategie
> Driver Coaching als Chance zur Verbesserung der Real-Effizienz
GANZHEITLICHE BETRACHTUNG DES GESAMTFAHRZEUGS
Auch wenn grundsätzlich die gleiche Fahrbatterie und der gleiche Antriebsstrang verwendet werden, liegen der Energieverbrauch und damit die Reichweite je nach Fahrzeug-Grundkonzept und Design deutlich auseinander. So sind zum Beispiel SUVs auf große Raumverhältnisse, gute Schlechtwegetauglichkeit und starke Anhänger-Zugleistung ausgerichtet. Dies steht im Gegensatz zu einem effizienten Fahrzeug. Für ein SUV wird sich daher nie die gleiche Effizienz erreichen lassen wie mit einem aerodynamisch günstigen, gewichtsminimierten „Reichweitenfahrzeug“.
Allerdings lassen sich auch bei einem eigentlich verbrauchsungünstigen Auto erhebliche Verbesserungen erzielen, wenn in allen Bereichen optimiert wird. Die effiziente Auslegung der Motoren ist dabei nur ein Ansatz, um die Reichweite zu maximieren. Der nächste Schritt ist die Minimierung der Reibungswiderstände im übrigen Antriebsstrang. Im dritten Schritt sind auch die Fahrwiderstände zu reduzieren, die sich aus Aerodynamik, Reifenrollwiderstand und Fahrzeuggewicht ergeben. Zudem hat als wichtiges Element zur Erhöhung der Effizienz und damit der Reichweite des E-Autos auch das Thermomanagement große Bedeutung. Im Gegensatz zu Verbrennerfahrzeugen muss hier die Heizenergie aus der Fahrbatterie zusätzlich erkauft werden.
ZIELGERICHTETE ANTRIEBSFORMEL - ALLRADANTRIEB KANN EFFIZIENTER SEIN
Abhängig von der angestrebten Zielgruppe des Fahrzeugs gilt es zunächst, die passende Grundkonzeption des Antriebsstranges zu definieren. Dabei gilt es, den Zielkonflikt zwischen verschiedenen Kundenerwartungen an das Fahrzeug zu lösen. So kann für eine Kundengruppe die Fahrleistung, für eine andere Gruppe die Effizienz im Vordergrund stehen. Die Lösung hierfür ist ein modularer Antriebsbaukasten. Damit ist es möglich, eine Version des Fahrzeugs mit nur einer angetriebenen Achse und eine zweite Version mit zwei Antriebsachsen zur Verfügung zu stellen. Während ein Fahrzeug mit einer angetriebenen Achse als Einstiegsmodell und Reichweiten-Version angeboten werden kann, erlaubt eine Allrad-Version eine höhere Gesamtleistung. Zudem kann die Allrad-Funktion als zusätzliches Verkaufsargument für das E-Auto dienen. Die aktive Drehmomentverteilung zwischen den beiden Antriebsachsen eröffnet darüber hinaus auch die Möglichkeit, die Fahrdynamik positiv zu beeinflussen.
Optimale Antriebsauslegung
Auf den ersten Blick hat der elektrifizierte Allradantrieb prinzipbedingte Nachteile. So können zwei Antriebe das Gewicht erhöhen und das nutzbare Raumangebot verringern. Allerdings lassen sich mit höherer Leistung bessere Wirkungsgrade erzielen, da E-Motoren diese im Gegensatz zu Verbrennungsmotoren im Teillastbereich haben. Schon heute wird dies bei Serienfahrzeugen genutzt. In der Regel wird selbst bei Fahrzeugen mit nur einer angetriebenen Achse ein scheinbar überdimensionierter Motor eingesetzt, da so im Realbetrieb weniger hohe Lasten anfallen. Besonders wichtig ist dies bei Konstantfahrt, weil sie den größten Teil des Fahrbetriebs ausmacht.
Bei Allradantrieben lassen sich durch eine Entkopplung einer Achse weitere Vorteile erreichen. Hierbei wird die Sekundärachse besonders in Konstantfahrphasen abgekoppelt. Besonders effektiv ist dies in Verbindung mit einer komplementären Auslegung von Primär- und Sekundärantrieb.
Hierbei erfolgt die Auslegung der Antriebe so, dass die Effizienz-Sweet-Spots in unterschiedlichen Geschwindigkeitsbereichen liegen, also komplementär zueinander. Durch die anschließende entsprechende komplementäre Nutzung im Fahrbetrieb erzeugen die zwei Antriebe einen weitaus breiteren Effizienz-Sweet-Spot, als es mit nur einem Antrieb möglich wäre. Das Resultat dieser cleveren Auslegung ist dann eine höhere Real-Reichweite im Fahrbetrieb bei gleichzeitig gesteigertem Performance Potential.
Diese Vorteile lassen sich vor allem für Fahrzeugsegmente nutzen, in denen aufgrund hoher Reichweiten und somit schwereren Batterien ohnehin eine hohe Leistung erforderlich ist. In der Regel deckt sich dies mit Fahrzeuganwendungen, bei denen Kunden auch höhere Erwartungen an Traktion und Fahrdynamik haben. Welche Lösung sinnvoll ist, hängt vom Einzelfall ab. Doch anders als bei Verbrennungsmotoren kann ein elektrifizierter Allradantrieb sogar sparsamer sein.
NORMREICHWEITE UND REALREICHWEITE ANNÄHERN
Wie weit die Normreichweite nach WLTP und die Realreichweite eines BEVs voneinander abweichen, hängt stark vom Nutzungsprofil ab: Wie ähnlich ist die erwartete Nutzung des Fahrzeugs mit dem bei der standardisierten Messung nach WLTP abgefahrenen Zyklus? Grundsätzlich ist die Normreichweite aus Endkundensicht nützlich, um unterschiedliche Fahrzeuge objektiv miteinander vergleichen zu können. Die vereinheitlichte Messung wird die Nutzungsrealität für einen spezifischen Endkunden aber nie wirklich abbilden können. Die Normreichweite wird in einem festgelegten Zyklus aus Stadtverkehr, Landstraßenfahrt und Autobahn ermittelt. So ergeben sich beispielsweise schon zwangsläufig höhere Werte, wenn die Realnutzung von dieser Streckentypverteilung abweicht. Zum Beispiel wird sich bei einem hohen Autobahnanteil auch ein höherer Energieverbrauch und damit eine geringere Reichweite einstellen. Ziel eines ganzheitlich optimalen Energiemanagements ist es daher, diese beiden Werte einander bereits in der Entwicklung anzunähern.
Welcher Weg dabei gewählt wird, ist wiederum stark vom Fahrzeugkonzept abhängig und ist in der Zusammenarbeit zwischen OEM und Entwicklungspartner festzulegen. Bei einem Reisefahrzeug, das auch für längere Strecken eingesetzt werden soll und in höheren Geschwindigkeitsbereichen bewegt wird, hat beispielsweise die Aerodynamik und der Reifenrollwiderstand eine höhere Bedeutung. In einem primär für den Stadt- und Kurzstreckeneinsatz ausgelegten E-Auto, mit dem viel beschleunigt und verzögert wird und bei dem häufiger Stillstand mit anschließendem Anfahren zu erwarten ist, hat die Minimierung des Gewichts, die Maximierung der Bremsenergierückgewinnung und die Optimierung des Energiebedarfes für die Fahrzeugklimatisierung Vorrang.
REIFEN ALS TEIL DES ENERGIEMANAGEMENTS?
Die Minimierung der Fahrwiderstände als zentrales Element des Energiemanagements zieht sich bis hin zu Wahl und Auslegung von einzelnen Komponenten. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die Reifen. Einerseits sind Räder und Reifen ein wichtiges Designelement und müssen zum Gesamtstil des E-Autos passen. Andererseits haben sie auch einen hohen Einfluss auf die Fahrwiderstände. Dies betrifft nicht nur den Rollwiderstand selbst, sondern auch Luftwiderstand und Gewicht. Ein Reifen, der auf kleiner Fläche aufliegt und nur wenig walkt, minimiert die Rollwiderstände und verringert zusätzlich aufgrund seiner geringen Breite auch den Luftwiderstand. Andererseits reduziert ein relativ hart abrollender Reifen den Fahrkomfort und bringt Nachteile in der Fahrdynamik. Dies erfordert wiederum einen höheren Aufwand bei der Fahrwerksentwicklung und Abstimmung der Fahrdynamikregelsysteme, um dennoch ein akzeptables Komfort-Erlebnis und sicheres Fahrverhalten zu erreichen. Je nach Anforderungen des OEMs müssen oftmals Abstriche an einem Punkt hingenommen werden, um einen anderen zu optimieren.
Hier zahlt sich für den OEM ein Entwicklungspartner wie MAGNA aus, der in allen Bereichen der Fahrzeugentwicklung und Abstimmung nicht nur Erfahrung hat, sondern Performance und Robustheit der Systeme auch auf eigenen Prüfgeländen und Testprüfständen validieren kann.
THERMOMANAGEMENT ALS WICHTIGES ELEMENT DER ENERGIESTRATEGIE
Eine Schlüsselrolle im Energiemanagement übernimmt auch die für E-Autos besonders wichtige Auslegung und Abstimmung des Thermosystems. Die WLTP-Messung der Normreichweite wird bei 23°C Umgebungstemperatur und ohne Klimatisierung gefahren. Der Energieverbrauch durch die Fahrzeugklimatisierung und Konditionierung der Fahrbatterie bleibt dabei also unberücksichtigt. Dieser kann aber großen Einfluss auf die reale Reichweite haben. Das Thermosystem beeinflusst neben der Klimatisierung auch das Leistungsvermögen des Fahrzeugs, sowohl beim Laden als auch beim Fahren. Zum einen erhöht der Energieaufwand für die Kabinenbeheizung bei kalter Außentemperatur den Stromverbrauch und die Belastung der Batterie und verschlechtert damit die Energiebilanz. Zum anderen hat eine leistungsfähige Batteriekühlung bedeutenden Einfluss auf die Schnellladefähigkeit des Fahrzeugs und auf die Hochlast-Tauglichkeit des Antriebsstrangs.
DRIVER COACHING ALS CHANCE ZUR VERBESSERUNG DER REAL-EFFIZIENZ
Auch wenn die Fahrzeugsysteme an sich alle Voraussetzungen für ein optimales Energiemanagement und damit maximale Effizienz mitbringen, kann sich für den Fahrer eine weit unter den WLTP-Normwerten liegende Real-Reichweite ergeben. Zum Beispiel, wenn das Fahrzeug durch den Fahrer bewusst oder auch unbewusst energieungünstig bedient und betrieben wird. Hier gewinnt das sogenannte Driver Coaching durch das Fahrzeug-Infotainmentsystem an Bedeutung, das zukünftig über die reine Informations- und Unterhaltungsfunktion hinausgehen wird. Es kann dem/der Fahrer_in Hinweise geben und ihn/sie so anleiten, das Fahrzeug so energieeffizient wie möglich zu nutzen. Dazu gehört bereits das Anbieten unterschiedlicher Fahrmodi – üblicherweise werden ein Energiespar-, ein Normal- und ein Sportmodus bereitgestellt.
Dabei können die Fahrhinweise je nach angewähltem Fahrprogramm abgestuft ausgegeben werden. Bei aktivem Sportprogramm wird der/die Fahrer_in absichtlich auf maximale Reichweite verzichten und insofern wenig gewillt sein, sich entsprechend den gegebenen Tipps zu verhalten. Umgekehrt wird ein Spar-, Effizienz- oder Economy-Programm nur angewählt werden, um tatsächlich die höchstmögliche Energieeinsparung und damit die maximale Reichweite zu erzielen. Der Fahrer ist sich hier aber der Einschränkung der Möglichkeit für ein flottes Fahrerlebnis bewusst.
Routenplanung und Fahrgewohnheiten als Faktoren von Energiemanagement
Zusätzliche Beiträge zur Steigerung der Real-Effizienz können durch Vernetzung mit dem Navigationssystem oder durch Beobachtung der regelmäßigen Fahrgewohnheiten geleistet werden. Detektiert das System beispielsweise, dass bei Pendlereinsatz des Fahrzeugs jeden Morgen um die gleiche Zeit eine kurze Strecke von zehn Minuten Dauer zurückgelegt wird, muss dafür nicht das gesamte Fahrzeug bis auf Komforttemperatur aufgeheizt oder heruntergekühlt werden. Hierbei wird Energie gespart. Umgekehrt ist es sinnvoll, die Batterie und die Kabine optimal zu konditionieren, wenn sich ein Navigationsziel in 300 Kilometer Entfernung befindet. Denn bei langen Fahrten ist es von Belang, die Batterie im optimalen Temperaturfenster zu halten, damit sie mehr Energie bereitstellen und gegebenenfalls auch höhere Ladeleistung aufnehmen kann. Auch die Vernetzung mit Routen- und Streckeninformationen kann die Effizienz erhöhen, um beispielsweise die Entscheidung zu treffen, ob besser „gesegelt“, also der Schwung genutzt werden soll, oder ob eine Erhöhung der Rekuperationsstärke für eine gezielte Verzögerung der bessere Weg ist.
Michael Martin
Michael Martin is currently working as a Group Leader for Energy Management & Operating Strategy at Magna Steyr. He has experience as a Senior Engineer specializing in driving performance, energy efficiency, and driveability. He started his career at Magna as a Simulation Engineer in the field of energy management in 2011. He holds a doctoral degree in mechanical engineering from the Technical University of Graz, with a focus on automotive engineering.
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